Das Vier-Seiten-Modell von Schulz von Thun
und die Anwendbarkeit im Nearshore

Nearshore in Gut geht Anders

Hinweis: Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Artikel das generische Maskulinum verwendet.

Vorab sei gesagt: Es geht in diesem Artikel nicht darum, grundsätzlich Zweifel an dem bekannten Modell von Friedemann Schulz von Thun äußern zu wollen. Hinterfragt wird jedoch die grundsätzliche Anwendbarkeit für Kommunikationstrainings im Nearshore, mit der Besonderheit Fremd- und Zweitsprachler in der Kommunikation mit deutschsprachigen Kunden zu trainieren.

Friedemann Schulz von Thuns Vier-Seiten-Modell (auch Nachrichtenquadrat oder Vier-Ohren-Modell) geht davon aus, dass jede Nachricht vier Botschaften enthält: den Sachinhalt, eine Selbstoffenbarung, einen Beziehungshinweis und einen Appell. Missverständnisse entstehen laut Schulz von Thun, wenn Sender und Empfänger diese Ebenen unterschiedlich gewichten oder interpretieren. In Call-Centern, insbesondere Nearshore-Standorten mit nichtmuttersprachlichen Mitarbeitern, treffen jedoch oft sprachliche Hürden und kulturelle Unterschiede auf dieses Modell. Im Folgenden werden zentrale Einwände zur Anwendbarkeit bei Kommunikationstrainings im Nearshore betrachtet – linguistisch, didaktisch, interkulturell und aus Praxis von Sprachtrainings im Kundenservice.

Sprachliche und kulturelle Barrieren bei der Anwendung des Modells

Der interkulturelle Kommunikationsalltag hat besondere Regeln

Die Praxis im interkulturellen Kommunikationsalltag hat mir gezeigt, dass Schulz von Thuns Modell in unterschiedlichen Sprachen und Kulturen nicht einheitlich funktioniert. Das Modell setzt implizit voraus, dass alle Beteiligten die vier Ebenen ähnlich verstehen – doch in Realität prägen kulturelle Wertvorstellungen und sprachliche Konventionen die Kommunikation stark. So wird beispielsweise in der deutschen Kommunikation die Sachebene traditionell sehr betont: deutsche Sender drücken sich möglichst klar und direkt aus. Kritik oder offene Worte gelten oft als ehrlich gemeint und sogar als Zeichen von Interesse. Die Beziehungsseite tritt im Deutschen tendenziell in den Hintergrund – man zeigt Respekt eher durch Taten (Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit) als durch viele Worte. Die Wurzeln für dieses Kommunikationsverhalten liegen in Kultur und Geschichte der Sprachanwendung begründet: Handel zu Zeiten der deutschen Kleinstaaterei war nur erfolgreich möglich, weil Informationen präzise, prägnant und verlustfrei in schriftlicher Form lange Wege zurückgelegt haben.

In anderen Kulturen ist dies teils umgekehrt: In anderen Kulturen werden Inhalte häufiger indirekt vermittelt; Wörter lassen „Platz für Interpretationen“, und der Empfänger muss in Teilen viel Kontext hinnehmen. Persönliche Wünsche werden zurückhaltender geäußert und stattdessen indirekt über die Appell-Seite vermittelt. Auch die Selbstoffenbarung wird in diversen Kontexten oft vermieden, um Harmonie zu wahren oder keine Schwäche zu zeigen. Ein direktes „Nein“ kann als unhöflich empfunden werden, weshalb oft indirekte Formulierungen oder Schweigen als „Nein“ interpretiert werden muss.

Diese unterschiedliche Ausprägung der “vier Seiten” führt dazu, dass ein und dieselbe Äußerung kulturell verschieden verstanden wird. Meine persönliche Erfahrung aus 25 Jahren Nearshore ist: „Ohne gemeinsames kulturelles Verständnis und kulturbedingte Interpretation des Gesprochenen, kommt es zu typischen Missverständnissen“. Das Vier-Seiten-Modell ist stark vom kulturbedingten Kommunikationsstil abhängig. Was in einer Kultur ein neutraler Sachhinweis ist, kann in einer anderen als unhöflich (Beziehungsangriff) oder unverständlich (fehlender Appell) wahrgenommen werden. Damit stößt das Modell in interkulturellen Umgebungen – wie internationalen Call-Centern – an Grenzen, wenn es nicht um kulturelle Adaptionen ergänzt wird.

Missverständnisse und Interpretationsprobleme bei Fremd- und Zweitsprachlern

Nicht nur Kultur, auch begrenzte Sprachkompetenz beeinflusst, welche “Seite” einer Nachricht verstanden wird. Zweit- und Fremdsprachler neigen dazu, sich auf den Wortlaut (Sachinhalt) zu konzentrieren, da sie hier am sichersten sind. Feinere Nuancen auf Beziehungs- oder Appellebene können ihnen dagegen entgehen oder missverständlich erscheinen. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen beschreiben dies als pragmatische Kompetenz.

Implizite Botschaften werden bei Unsicherheit in einer Fremdsprache ganz einfach nicht wahrgenommen. Ein einfaches Beispiel: Die indirekte Bitte „Es ist kalt hier.“ – die im Kontext heißt „Kannst du das Fenster schließen?“ – wird vom Zweitsprachler eventuell nur als Feststellung verstanden, hingenommen und führt weder zu Handlung noch Erwiderung. Die Folge sind pragmatische Missverständnisse, also Fehlinterpretationen der kommunikativen Absicht. Solche pragmatischen Fehler kommen laut Studien besonders häufig bei Höflichkeitsformeln, Bitten, Ablehnungen oder Ratschlägen vor. Wenn etwa ein deutschsprachiger Kunde am Telefon auf der Beziehungsebene Unzufriedenheit durch Tonfall ausdrückt, könnte ein nicht-muttersprachlicher Agent dies überhören und nur den Sachinhalt verarbeiten. Umgekehrt kann der Agent unbeabsichtigt einen falschen Beziehungsakzent setzen – etwa durch unpassende Wortwahl oder Intonation – den der Kunde dann persönlich nimmt.

Gerade im Call-Center mit Kundenkontakt zeigt sich diese Problematik: Ein sehr sachorientierter Gesprächsstil eines Agenten (etwa knappes, monotones Abarbeiten von Daten) kann von Kunden als Desinteresse oder Unhöflichkeit interpretiert werden. Hier prallen Sachebene und Beziehungsebene aufeinander – ein klassisches Vier-Seiten-Problem. Zweitsprachige Mitarbeiter laufen besonders Gefahr, solche impliziten Bedeutungen zu übersehen, weil sie mit dem Entziffern der Fremdsprache beschäftigt sind. Die Gehörten vier Ohren sind also bei ihnen ungleich ausgeprägt: Das Sach-Ohr dominiert!, während das Beziehungs- oder Appell-Ohr „abgeschaltet“ sein kann. Dies bestätigt Schulz von Thuns Hinweis, dass jeder Mensch Empfangsgewohnheiten hat – doch bei Zweitsprachlern ist die Präferenz oft unfreiwillig durch Sprachkenntnisse eingeschränkt.

Didaktische Herausforderungen bei begrenzter Sprachkompetenz

Die Vermittlung des Vier-Seiten-Modells an Zweitsprachler – etwa in Sprach- und Kommunikationstrainings für Call-Center-Mitarbeiter – ist didaktisch anspruchsvoll. Zum einen muss das Konzept selbst sprachlich verständlich gemacht werden, zum anderen sollen die Teilnehmer lernen, abstrakte Kommunikationsaspekte in einer Fremdsprache zu erkennen und anzuwenden. Oft sind die sprachlichen Fähigkeiten der Agenten auf einem mittleren Niveau. Das bedeutet: Sie können Alltagsgespräche führen, haben aber noch Schwierigkeiten mit idiomatischen Wendungen, Tonfall und Feinheiten – also genau den Elementen, die für Selbstoffenbarung, Beziehungston und indirekte Appelle wichtig sind. In Interkulturellen Trainings muss das pragmatische Bewusstsein integraler Bestandteil des Spracherwerbs sein, da es in realen Situationen sonst zu peinlichen Fehlleistungen kommt. Doch in der Praxis bleibt im straffen Ausbildungskontext von Call-Centern häufig wenig Zeit, tief in solche Meta-Kommunikationsfähigkeiten einzutauchen.

Hinzu kommt: Das Vier-Seiten-Modell vereinfacht zwar die komplexen Vorgänge der Kommunikation, aber es reduziert auch bewusst linguistische Fachbegriffe. Dies macht das Modell alltagsnah – aber für Fremd- und Zweitsprachler kann gerade das Fehlen expliziter Regeln verwirrend sein. Fremd- und Zweitsprachler fragen zur Hilfestellung eher nach konkreten Signalwörtern, während ein Muttersprachler hier intuitiv „versteht“. Didaktisch gilt es also, das Modell mit Beispielen und Rollenspielen zu füllen, die an den Sprachhintergrund der Lernenden angepasst sind. Die Herausforderung besteht darin, Mitarbeitern mit begrenzter Deutschkenntnis genügend Sprachwerkzeuge zu geben, damit sie neben dem Inhalt auch Tonfall, Zwischentöne und Beziehungen verstehen.

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Relevanz und Nutzen des Modells
im Call-Center-Alltag

Empathie, Beziehungssprache und kulturelles Gespür machen den Unterschied

Trotz der genannten Schwierigkeiten kann das Vier-Seiten-Modell im pragmatischen Call-Center-Alltag einen Mehrwert bieten – sofern es richtig eingeordnet wird. Im Kundenservice ist erfolgreiche Kommunikation der Schlüssel: Missverständnisse führen zu unzufriedenen Kunden und zeitaufwändiger Klärung. Schulz von Thuns Modell sensibilisiert Mitarbeiter dafür, bewusster zuzuhören und das eigene Sprechen zu reflektieren. Möglicherweise aber eben nicht mehr und dies im Nearshore mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit.

Für Zweit- und Fremdsprachler liegt der Fokus oft darauf, sprachliche Verständlichkeit sicherzustellen. Die perfekte Beherrschung aller Untertöne ist hier eher selten erreichbar, daher sollte der Schwerpunkt auf klarer, einfacher Kommunikation liegen. In diesem Sinne ist das Vier-Seiten-Modell nützlich, um Mitarbeiter für potenzielle Konfliktquellen zu sensibilisieren – aber es ersetzt nicht das Training in Sprachfertigkeit selbst. Statt tief in die Kommunikationstheorie zu gehen, sollten konkrete Techniken gelehrt, z. B. aktives Zuhören, Paraphrasieren, freundlicher Ton. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zum Beispiel das Aktive Zuhören bedingt durch kulturelle und sprachevolutionäre Entwicklung anders und auch weniger intensiv verwendet wird.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Vier-Seiten-Modell bietet ein wertvolles Konzept, um Kommunikationsprobleme im mehrsprachigen Kundendienst zu verstehen. Doch es stößt in der praktischen Umsetzung im Nearshore auf Hürden. Zunächst müssen sprachliche und kulturelle Barrieren überwunden werden – Mitarbeiter brauchen ausreichende Sprachkompetenz und interkulturelles Training, um die feinen Untertöne wahrzunehmen.

Das Modell sollte bei Kommunikationstrainings im Nearshore eher zur Sensibilisierung und nicht vertiefend vermittelt werden. Wichtiger ist es Empathie und Beziehungssprache sehr konkret zu üben. Ein Agent soll lernen, auf der Beziehungsebene zu spiegeln, bevor er zur Sachebene (Problemlösung) übergeht.

Erfolgreiche Kommunikation ist eben mehr als Worte: Sie erfordert Empathie, kulturelles Gespür und Anpassungsfähigkeit – Qualitäten, die auch das beste Modell nur unterstützen, aber nicht ersetzen kann.

Quellen:
PRAGMATIC FAILURE AND MISUNDERSTANDING IN INTERCULTURAL COMMUNICATION: A THEORETICAL ANALYSIS | International Premier Journal of Languages & Literature
https://ipjll.com/ipjll/index.php/journal/article/view/95

Missverständnisse nachvollziehbar machen mithilfe des Vier-Ohren-Modells von Schulz von Thun – GRIN | Grin
https://www.grin.com/document/497452?srsltid=AfmBOopZFtVHTe0uo9ixTSW6mC9MzaBKgjRjrXkRtXw10o99MwzGIfNT

Das Vier-Seiten-Modell von Schulz von Thun

und die Anwendbarkeit im Nearshore

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Der Autor.

Uwe Kons ist geschäftsführender Gesellschafter der kons-ulting GmbH, Deutschland. Als Gründer ist Uwe Kons verantwortlich für die strategische Ausrichtung und die Erweiterung des Beratungsgeschäftes. Er legt Wert darauf, in Beratungsprojekten eine aktive Rolle zu übernehmen, um so seine umfassende und 35-jährige Erfahrung weiterzugeben. Uwe Kons ist Betriebswirt der Fachrichtung Wirtschaftsinformatik, zertifizierter wingwave® Coach und ausgebildet in den Methoden des NLP.

Als CEO der twenty4help Knowledge Service AG trug er strategische und operative Gesamtverantwortung und hat das ehemals deutsche Unternehmen zu einem europäisch agierenden Dienstleister mit mehr als 3500 Beschäftigten und 12 Standorten über Europa verteilt entwickelt.

In 2006 gründete Uwe Kons die kons-ulting GmbH, die sich auf  Strategieberatung, Prozessoptimierung, Personalentwicklung und Nearshore im Customer Service spezialisiert hat.